Der Fels der vier Gesichter

In den Weiten der nördlichen Ebenen Apaconors, im Stammesgebiet der Grasmeer-Ishia, dort wo sich kein Baum, kein Strauch, kein Hügel erhebt, wo nur flaches Land sich erstreckt so weit das Auge reicht, unterbricht ein Gebilde aus Stein die Eintönigkeit: Eine steinerne Säule, eine Felsnadel, so hoch wie drei ausgewachsene Männer und von einem Umfang, dass es vier Männer braucht, sie an ihrer Basis zu umfassen. Wie ein Baum verwurzelt in der Erde steht diese Säule in der Landschaft wohl schon seit Urzeiten, verwittert und abgeschliffen von Wind und Regen und mit Flechten und Moosen bewachsen. Jedoch lässt sich noch immer problemlos erkennen, dass der Fels einst von kunstfertiger Hand bearbeitet und gemeißelt wurde.

Die Säule weist grob gesehen eine quadratische Grundfläche auf, jede Seite ist exakt einer Himmelsrichtung zugewandt. Je ein mannshohes Gesicht ist in jede Seite der Säule eingemeißelt. Die Gesichter tragen fremdartige Züge: Die Nasen wirken klein und flach, die Augen sind mandelförmig und stehen leicht schräg, die Stirnen sind hoch gewölbt und kahl, geschmückt von Diademen und Stirnreifen, deren genauere Details sich nicht mehr ausmachen lassen. Die Ohren sind lang nach unten gezogen und tragen tellergroße räderartige Gebilde mit Speichen an den Ohrläppchen. Auf den ersten Blick wirken die vier Gesichter einander ähnlich, wenn nicht gar gleich, jedoch merkt man bei genauer Betrachtung, wie sich die Gesichtszüge zu verändern beginnen: Die Augen in den dunklen Höhlen scheinen den Betrachter zu verfolgen und die Mundwinkel beginnen sich zu verziehen. Das nach Süden blickende Gesicht nimmt einen grimmigen, wütenden Ausdruck an, auf der Ostseite verzieht sich das Gesicht zu einem schalkhaften freudigen Grinsen, während das westliche Gesicht von Trauer und Verzweiflung ergriffen ist. Das Gesicht im Norden bleibt jedoch stets von träger Gelassenheit geprägt.

Nicht einmal die Ältesten der Ishia können sich an die Erbauer der Säule erinnern, geschweige denn an den Zweck dieses Objektes. Eine Kultur, die schon längst vergangen war, als die Ishia einst dieses Land besiedelten, muss die Säule errichtet und ihr Geheimnis mit sich in die Vergessenheit genommen haben.

Nur selten einmal kommen die Ishia an diesen Ort. Besonders in gewittrigen Nächten sieht man fahle Lichter und Blitze die Säule entlang wandern. Die Weisen sagen, Geister kämen dann aus den Mündern der Gesichter und verbreiteten die Stimmungen der vier Gesichter (Wut, Fröhlichkeit, Traurigkeit, Gleichgültigkeit) unter den Menschen.

Wenige Ishia benutzen den Fels der vier Gesichter als eine Art Orakel, indem sie mit verbundenen Augen um die Säule herum wandern, währenddessen ihre Frage stellen und an dem Gesicht, dem sie schließlich gegenüberstehen eine Tendenz für die Zukunft festzustellen versuchen.
Copyright: Marc Exner

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Anm. des Herausgebers:
Diesen Text habe ich als Geschenk beim Weltenbastlerwichteln von Jerron erhalten. Auch wenn ich ihn selbst so sicher nicht geschrieben hätte, passt er beinahe perfekt nach Aurhim. Nur eine Winzigkeit würde ich ändern. Statt der fahlen Lichter und Blitze, die die Säule zu einem unheimlichen Ort machen, denke ich, daß Nebelschwaden, die sich an dem Stein vor allen anderen Orten bilden, besser nach Aurhim passen würden. Aber das ist nun wirklich nebensächlich. Also an dieser Stelle nochmal herzlichsten Dank an meinen lieben Wichtel.