Magie

Bis jetzt habe ich mich bemüht, Dir, Freund, die Fakten darzulegen, ohne meine eigene Meinung dabei zu berücksichtigen. Doch bei diesem Thema muß ich Dich schon jetzt um Verzeihung bitten, denn hier wird mir dies kaum gelingen. Zu sehr verschleiern Glaube und auch Aberglaube die Sicht, zuwenig gesicherte Tatsachen bieten sich dem kritischen Geist.
Fragt man die einfachen Menschen, die Marktfrauen und Bauern, die Knechte und Wäscherinnen, so wird man kaum einen finden, der an ihr, der Magie, zweifelt. Doch unter den Gebildeten ist man sich nicht so sicher, und auch ich habe den festen Glauben meiner Kindheit daran verloren. Mannigfaltig sind die Geschichten über Geister, über Menschen, denen Feuer und Blitz nichts anhaben können, über wilde Bestien, die ihr Opfer mit schrecklichem Zauber vernichten. Allen gemein ist, daß man kaum jemals einen findet, der das Beschriebene wirklich selbst erlebt hat, und wenn, dann ist seine Erinnerung meist von der Aufregung getrübt. Deswegen will ich mich auf vier Dinge beschränken, die mir am ehesten greifbar erscheinen.
Kaum ein Bauer, kaum ein Handwerker, der nicht einmal die Dienste einer Kräuterfrau in Anspruch genommen hätte. Besonders gilt dies für die Armen, die sich in hundert Jahren nicht den Dienst eines studierten Arztes leisten könnten. Manche dieser weisen Frauen sind ganz offensichtlich Stümper, doch einige von ihnen verstehen ihr Fach - besser als so mancher Arzt - und nicht wenige von ihnen stehen im Ruf, Magie wirken zu können. Oft umgeben sie die Zubereitung ihrer Heilmittel mit allerlei Ritualen und meist tragen sie ihren Kunden nicht nur auf, die Arznei einzunehmen, sondern diese Handlung auch mit bestimmten Zaubersprüchen zu begleiten. Doch in meiner Erfahrung wirken diese Mittel allemal gleich, egal, ob mit Zauberspruch belegt oder nicht. Doch nicht allein auf mein Urteil habe ich mich verlassen. Ich sprach mit Ärzten und auch anderen Menschen, die in der Heilkunde nicht ganz unerfahren sind, mit Söldnern und Jägern. Demnach liegt die Kraft zu heilen allein in den Pflanzen selbst und nur der Zeitpunkt der Ernte oder die Techniken der Zubereitung bestimmen ihre Wirksamkeit, nicht aber irgendwelches Brimborium.
Habe ich hier keine Magie gefunden, so will ich mich einem anderen Zauber zuwenden. Viele Legenden erzählen von den schrecklichen Meerdrachen, dem Verderben der Seeleute. Auch die Aleandon, die sonst dem Aberglauben wenig zugeneigt sind, kennen solche Geschichten und sie erzählen ganz besonders von dem herzgefrierenden Schrei der Drachen, den doch keiner zu hören vermag. Doch kaum einer ist jemals von der Begegnung mit einem Meerdrachen zurückgekehrt und so gab es nur wenig vertrauenswürdige Berichte. Bis vor kurzem drei Männer, die mir gut bekannt sind, eine solche Begegnung erlebten. Die ersten beiden, Kapitän Jotan Sadayan von der Falke und sein Steuermann Meko, wurden Zeugen der Paarung zweier Drachen. Sie zeigten sich von der Kraft, Eleganz und schieren Größe dieser Wesen sehr beeindruckt, doch konnten sie von einem besonderen Zauber nichts berichten. Zwei Dinge allerdings erschienen ihnen ungewöhnlich: zum einen konnten die Tiere scheinbar nach Belieben ihre Farbe wechseln und so auch völlig mit dem umgebenden Wasser verschmelzen, zum andere rissen die Tiere immer wieder das Maul wie zu einem Schrei auf, doch kein Laut war zu hören. Doch die Fähigkeit, die Farbe zu ändern, haben auch einige Tiere in den undurchdringlichen Wäldern des Südens. Mit eigenen Augen habe ich einmal ein solches Tier gesehen, das wie eine übergroße Eidechse mit dickem Kopf wirkt. Vor meinen Augen wechselte es seine Farbe von geschecktem Braun zu einem leuchtenden Grün - und niemand, nicht einmal sein Besitzer, ein abergläubischer Matrose, sah darin etwas Magisches. Der lautlose Schrei allerdings passt zu den Geschichten der Aleandon, doch keiner der beiden Männer verspürte Furcht. Doch noch ein dritter Mann begegnete einem Meerdrachen, und seine Erzählung brachte zumindest in diesem letzten Punkt Klarheit. Er nämlich mußte sich dem Angriff eines Meerdrachen erwehren. Glücklicherweise allerdings auf trockenem Land, so daß es ihm schließlich gelang, die Bestie zu töten, eine Tat, die wohl nur einem so erfahrenen Schwertkämpfer, wie T'Shay-itzu es ist, gelingen konnte. Auch er berichtete von dem stummen Schrei, doch anders als die beiden anderen, spürte er die Angst mit kalter Hand nach seinem Herz greifen. Ihm gelang es jedoch, diese Angst zu überwinden, und später erschien ihm diese Furcht nicht schrecklicher, als es jeder Angriff eines überlegenen Gegners gewesen wäre. Ob dieser Schrei nun tatsächlich eine Angstzauber auf die Opfer des Drachens legt, oder ob uns nur das Unbekannte schreckt, vermag ich nicht zu sagen. Alle anderen Tatsachen aber, sprechen dafür, daß auch der Meerdrache nichts weiter als ein Tier ist, ein besonders großes und gefährliches zugegebenermaßen.

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