Magie (Forts.)

Aber wenden wir uns einer weiteren Legende zu, dem Gesang der Nixen, die arme Seeleute um ihren Verstand bringt. Es erscheint mir als sicher, daß die Geschichten über die Nixen und Wassermänner auf alte Erinnerungen der Menschen an die Aleandon zurückgeht. Zu viele Details stimmen überein: das goldene Haar, die leuchtenden Augen, die Verbundenheit mit dem Wasser, um eine andere Deutung zuzulassen. Und tatsächlich besitzen die Aleandon eine Fähigkeit, die Erzählungen über einen magischen Nixengesang begründet haben könnte. Sie können nämlich anderen Wesen auf eine Weise ihren Willen klarmachen, die uns wie Zauber erscheint. Ein Wort, und die Kreatur schöpft Vertrauen, empfindet Freundschaft. So ist es ihnen unter anderem gelungen, Vögel nicht nur in Gefangenschaft zu halten, sondern echt zu zähmen. Auch auf Menschen können sie so einwirken - wenn diese nicht krampfhaft versuche, die fremden Worte zu verstehen. Es erscheint einem wie Magie, wenn man auf einmal weiß, was der Gegenüber einem sagen will - ohne auch nur ein Wort seiner Sprache zu kennen. Ich aber zweifle daran, ob es sich hierbei wirklich um einen Zauber handelt. Können wir nicht auch so oft erahnen, was der andere will, selbst wenn wir ihn nicht verstehen, allein aus seinen Gesten, seiner Miene, dem Klang seiner Stimme? Spielen nicht Kinder auf das Prächtigste miteinander, wissen sie nicht genau, was der Kamerad möchte, wenn sie auch nicht ein Wort seiner Sprache verstehen? Ist es da nicht nur ein gradueller Unterschied zu den Fähigkeiten der Aleandon?
Aber noch einen Zauber gibt es in Andûmale zu entdecken. Die Rüstungen der Aleandon sind aus einem Material, das hart und fest ist und doch federleicht erscheint. Dazu kommt, daß das Material, das im Rohzustand von einem schimmernden Grau ist, die herrlichsten Farben annehmen kann. Nicht nur golden und silbern kann es schimmern - ohne das eines der kostbaren Metalle hinzugefügt worden wäre - sondern auch purpur, violett, blau oder türkis, ja, es gibt sogar Stücke, die in all diesem Farben auf einmal zu schimmern scheinen wie ein Schmetterling. Als ich das erste Mal eines dieser Wunderwerke sah und berühren durfte, schossen mir sofort all die Geschichten von magischen Rüstungen und verzauberten Waffen durch den Kopf. Doch als ich meine Gedanken den Schmieden mitteilte, die die Rüstung geschaffen hatten, lachten sie nur. Dieses Metall, das sie Athiorh "Harteisen" nennen, sei nicht magischer als eben Eisen. Zwar sei seine Herstellung etwas schwieriger als beim gewöhnlichen Eisen und es sei so mancher Kniff von Nöten, doch von Magie wußten sie nichts zu berichten. Zu welchem Zweck hätten sie mich belügen sollen, frage ich?
Nun, ich will Dich nicht länger mit meinen Beispielen ermüden. Fragst Du mich nach meiner Schlußfolgerung, so kann ich nur sagen, ich habe keine. Weder will es mir gelingen, die Existenz von Magie zu beweisen, noch sie zu widerlegen. Vielleicht wird eine spätere Generation dieses Rätsel lösen können. Für den Augenblick bleibt es allein eine Angelegenheit von Glaube - und Zweifel.

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Anm. des Herausgebers:
Ich kann Malacirs Zweifel zwar nicht in letzter Endgültigkeit bestätigen, aber ich kann ihn zumindest weiter untermauern. Die Fähigkeit des Meerdrachen, die Farbe zu wechseln, beruht - wie Malacir richtig erkannt hat - auf den gleichen Mechanismen, wie man sie auch bei Chamäleons und Tintenfischen findet. Aber auch der stille Schrei, der ihn so verwirrt hat, hat eine naturwissenschaftliche Erklärung. Infraschall, das heißt Schall, der unter der Hörgrenze des Menschen liegt, kann bei Mensch und Tier Panik auslösen. Diese Panik ist natürlich nicht magisch und kann deswegen wie jede andere auch bekämpft werden. Ein erfahrener Krieger wie Shay sollte wissen, wie er mit der aufkommenden Furcht umzugehen hat. Der Effekt tritt aber nur bei ganz bestimmten Frequenzen auf, womit sich klärt, warum der Schrei des Meerdrachen manchmal diese Wirkung hat und manchmal nicht.
Zuletzt gibt es auch eine ganz einfache Erklärung für die so zauberhaft leichten Rüstungen der Aleandon. Das Metall, aus dem sie bestehen, Athiorh ist nämlich nichts anderes als Titan. Es besitzt eine sehr viel höhere spezifische Festigkeit als Eisen, d.h. bei gleicher Festigkeit wiegt ein Bauteil aus Titan nur etwa halb so viel wie eines aus Eisen. Die von Malacir beschriebenen Farben entstehen dabei ganz von selbst bei der Reaktion des Titans mit dem Stickstoff der Luft bei höheren Temperaturen. Titannitrid aber ist einer der härtesten Stoffe in der Natur. Wer sich selbst einmal einen Eindruck von den goldenen Rüstungen der Aleandon machen will, muß sich nur in einem Baumarkt die teuersten Bohrer ansehen. Die sind nämlich mit genau diesem Titannitrid beschichtet. Daß es den Aleandon allerdings bei ihrem technischen Niveau gelungen ist, metallisches Titan zu gewinnen, erscheint mir wie Magie.
So komme ich letztendlich zum gleichen Fazit wie Malacir. Für viele Dinge, die die einfachen Menschen Aurhims Magie nennen, kann man sicher eine Erklärung finden, aber das muß nicht bedeuten, daß es gar keine Magie gibt.