Die Ankunft in Tiluvo

Eirien streckte die Hand nach Shay aus. "Komm mit!" sagte sie fröhlich. Gemeinsam kletterten sie die Felsen hinab, zwischen Sträuchern und kleinen Bäumen. Weit reichte das Meer hier in das Land hinein und die Klippen waren steil und schroff. Am Ende des Fjords befand sich ein kleiner weißer Sandstrand. Als sie ihn erreichten drehte sich Eirien zu Shay um und lächelte ihn glücklich an. "Da hinten, hinter dem Felsen liegt mein Boot."
Es war ein Boot wie es Shay noch nie gesehen hatte. Es hatte nicht einen Rumpf, sondern zwei, die fest miteinander verbunden waren. Doch waren diese Rümpfe sehr schmal. Das ganze Boot zusammen, war wohl höchstens zwei Schritt breit und drei Schritt lang. Eirien war schon damit beschäftigt den Mast aufzurichten, der Shay ungewöhnlich lang vorkam. "Könntest du bitte das Seil da hinten losbinden?" unterbrach sie seine Gedanken. Er kam ihrer Aufforderung nach und sie gesellte sich zu ihm. Gemeinsam schoben sie das kleine Gefährt ins Wasser und kletterten an Bord. Eirien bedeutete ihm, sich zu setzen, und Shay tat sein möglichstes, ihr nicht im Weg zu sein, während sie die Segel setzte und das Boot hinaus aufs offene Meer steuerte. Als sie bereits einige Meter zurückgelegt hatten, erhob sich Quidoa von dem Felsen, von dem aus er ihre Handlungen verfolgt hatte. Kreisend folgte er im Heck des Bootes.
Draußen traf sie ein frischer Wind und das kleine Boot legte sich weit über. Eirien steuerte geschickt an der Küste entlang. Sie kamen rasch voran und doch neigte sich die Sonne schon dem Horizont, als sie eine weite Bucht erreichten. Eirien kürzte sie Segel und lenkte den Bug zum Land hin. "Bald sind wir da, hier in dieser Bucht ist die Hauptstadt meines Volkes."
Shay blickte sich um, doch konnte er nirgends Gebäude entdecken. Er sah Eirien fragend an, doch sie lächelte nur. "Warte ab, du wirst sie schon noch sehen."
Schäumend brachen sich die Wellen an den steilen Klippen und Shay fragte sich schon, wie das kleine Boot das überstehen sollte, als sich eine Lücke in den Brechern zeigte. Eirien steuerte direkt darauf zu und Shay sah, dass sich dahinter der Eingang zu einer Höhle befand. Der Durchbruch mochte vielleicht zehn Schritt breit und ebenso hoch sein. Gerade als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, strich Eirien alle Segel und von den Wogen getrieben schossen sie durch die schmale Öffnung. Quidoa folgte ihnen kreischend.
Shay brauchte einen Moment, bis er sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, doch dann zeigte sich Erstaunliches vor seinen Augen. Kurz nach hinter dem Eingang erweiterte sich die Höhle. Sie war etwa dreihundert Schritt lang und mochte an ihrer größten Breite gut 150 schritt messen. Erleuchtet wurde sie von Tausenden von kleinen Lampen, die am Meeresgrund befestigt waren, so dass die ganze Höhle in ein seltsam blaues Licht getaucht war. In ihr lagen eine Vielzahl von Booten und Schiffen vor Anker oder an der Mole, die sich beiderseits über die ganze Länge der Höhle erstreckte. Die Mehrzahl der Boote war etwa doppelt bis dreimal so groß wie Eiriens Boot, doch gab es auch einige kleinere. In der Mitte lagen vier große Schiffe, die selbst mit ihren hohen Masten nicht das Dach der Höhle berührten.
Während sie nun langsam durch die Höhle trieben, war Quidoa vorausgeflogen. Er erwartete sie auf einem Pfosten am Ende der Höhle sitzend. Mit dem letzten Schwung erreichten sie die Stelle und Eirien warf einem Mann auf der Mole ein Seil zu, damit er sie vollends an Land zöge. Schnell war das kleiner Boot vertäut, und Eirien kletterte an Land. Sie streckte die Hand nach Shay aus, um ihm beim Ausstieg zu helfen. Quidoa ließ sich auf Eiriens rechter Schulter nieder und zusammen gingen sie die Mole entlang. An der Stelle, wo die beiden Quais zusammenstießen, war eine Treppe in den grauen Fels gemeißelt, an deren oberen Ende sich ein schön behauener Torbogen befand. Als sie diesen jedoch durchschreiten wollten, stellten sich ihnen zwei Soldaten in den Weg. Sie trugen silberne Kettenhemden und einen silbernen Helm. Ihr Umhang und Helmbusch war von tiefem grün und in den Händen hielten sie lange Lanzen aus schwarzem Holz mit silbernen Spitzen.
"Entschuldigt, Prinzessin, aber ihr kennt das Gesetz. Kein Fremder darf die Stadt betreten, außer auf ausdrücklichen Befehl eures Vaters." Die Stimme des Soldaten klang freundlich, doch bestimmt.
Eirien sah ihn an. "Ich kenne das Gesetz wohl. Dieser Mann hat mein Leben gerettet, allein dafür hätte er unsere Gastfreundschaft verdient. Doch mehr als das, vielleicht birgt er den Schlüssel zu einem Ausweg aus der Gefahr in der unser Volk schwebt. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass er mit meinem Vater spricht. Lass uns passieren."
Der Soldat hatte aufmerksam zugehört, jetzt musterte er Shay kritisch, der diesem Blick scheinbar ungerührt standhielt. Endlich gab er mit einem Nicken den Weg frei, und sein Kamerad tat es ihm nach. "Auf eure Verantwortung, Prinzessin."

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