Die Geschichtsstunde

Der Weg führte in engen Serpentinen zwischen den Häusern Chuwelas hindurch und dann weiter den Hang hinauf. Steil war der Pfad in den nackten Felsen geschlagen worden. Nur einige Flechten und Moospolster sorgten für farbige Tupfer auf dem grauen Stein. Sie gewannen schnell an Höhe und bald hatten sie die Kante der Steilküste erreicht. Zwar hatten sie erst wenig mehr als ein Viertel der Passhöhe erreicht, doch von nun an würde der Pfad sanfter ansteigen.
Eirien trat einen Schritt zur Seite und ließ die Gruppe an sich vorbeiziehen. Neben dem jungen Mädchen reihte sie sich wieder ein.
"Wir hatten noch nicht viel Gelegenheit miteinander zu sprechen. Ich bin Eirien, aber das wirst du wohl wissen. Dein Name ist Liah, nicht wahr?"
Das Mädchen nickte schüchtern. "Ja." Dann fügte sie etwas selbstsicherer hinzu: "Liah ne Vennuwath."
Eirien lachte. "Da es mein Bruder war, der mich bat, dich auf diese Reise mitzunehmen, war ich davon ausgegangen, dass du zu seinem Haus gehörst."
Das Mädchen errötete und senkte den Blick. "Oh!"
Eirien lächelte. "Entschuldigung! Ich wollte dich nicht als dumm hinstellen." Sie beobachtete Liah unauffällig. Das Mädchen wirkte sehr nervös, fast unglücklich. Eirien beschloss, sie etwas aufzumuntern. "Es ist das erste Mal, dass du von zuhause weg bist, nicht wahr? Das ist nicht einfach, aber bald wirst du dich in Neshive wohl fühlen. Ein Jahr ist gar nicht so lang, glaube mir."
"Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ich vermisse meine Eltern und meine Schwester jetzt schon. Ich war noch nie allein."
"Aber du bist doch nicht allein. Kennst du denn niemanden in Neshive?"
"Doch, schon. Vor zwei Jahren war Ajira ne Fenorcav in Tiluvo. Wir sind gute Freundinnen geworden. Ich werde bei ihrer Familie wohnen." Ein zaghaftes Lächeln machte sich auf Liahs Gesicht breit.
"Na also. Dann bist du ja nicht ganz allein. Bald wirst du viele nette Leute kennen lernen und bis du in einigen Jahren erwachsen bist, wirst du gute Freunde in allen Städten unserer Volkes haben - und das ist ja auch der Sinn."
"Ich dachte immer, wir müssten unsere Familie für einige Zeit verlassen, damit wir lernen auf eigenen Füßen zu stehen."
"Das auch. Du wirst kein Mädchen mehr sein, wenn du zurückkommst, sondern eine junge Frau. Aber du wirst auch eine zweite Heimat haben und wenn du in Zukunft nach Neshive kommst, wird es sein, als kämest du nach Hause. So wie ich jetzt."
"Ihr habt auch einmal ein Jahr in Neshive verbracht?"
"Ja, und wie bei dir, war es auch bei mir das erste Mal, dass ich von daheim weg war. Ich war damals genauso nervös, aber es hat nicht lange gedauert, und ich habe mich dort sehr wohl gefühlt. Neshive ist eine wunderschöne Stadt. Sie wird auch dir gefallen."
Das Mädchen antwortete nicht. Es schien ihr schwer zu fallen, Eirien zu glauben. Eirien beschloss, ihr etwas mehr von der Stadt zu erzählen, in der sie das nächste Jahr verbringen würde. Der Aufstieg bis zum Pass würde noch einige Zeit dauern. "Neshive ist schön." wiederholte sie. "Es ist ganz aus schimmerndem, weißem Stein gebaut. Wenn es in der Sonne strahlt, könnte man meinen, es wäre aus glitzerndem Eis errichtet, als wäre es ein Teil des Gletschers auf der anderen Seite des Sees. Dieser See ist der Reichtum Neshives. Es gibt unzählige Fische dort. Im Sommer kann man herrlich segeln, denn die Winde sind gerade stark genug für eine schnelle Fahrt. Aber die beste Zeit zum Segeln ist der Winter. Wenn der See dick gefroren ist, kommen die berühmten Segelschlitten von Neshive zum Einsatz. Sie fahren auf Kufen und sind schneller als jedes Boot. Es ist nicht einfach, damit umzugehen, doch die Leute hier sind wahre Meister darin."
Am Wegesrand lag ein Stein, dem Wind und Wetter über die Jahrhunderte das Aussehen eines Fischkopfes mit weit offenem Maul gegeben hatten. Eirien zeigte ihn Liah. "Siehst du den Felsen da? Bald sind wir am Pass." An einzelnen geschützten Stellen sahen sie jetzt etwas Schnee, doch der Weg war noch immer frei.
"Es ist noch früh im Winter, fast noch Herbst. Es wird noch etwas dauern, bis das Eis auf dem See dick genug für die Schlitten ist. Mit diesen Schlitten holen sie dann auch das Erz aus den umliegenden Dörfern. Ein Teil davon wird über den Berg nach Chuwelas gebracht, wo es gelagert wird, bis die Handelsschiffe im nächsten Frühjahr zurückkommen. Aber das meiste wird gleich in Neshive verarbeitet. Es ist einfacher, einige Harpunenspitzen oder einen Beutel voll Nägel über den Berg zu tragen, als einen großen Haufen Steine."
Das Interesse des Mädchens schien geweckt. Eirien fuhr fort: "Aber du bist noch jung. Wahrscheinlich langweile ich dich, wenn ich nur von Handel und Handwerk rede. Du willst sicher wissen, wie die jungen Leute ihre Zeit verbringen." Liah nickte.

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