Die Geschichtsstunde (Forts.)

"Wie überall verbringen sie viel Zeit auf dem Wasser, segeln und schwimmen. Aber die Tage sind kurz im Winter. Wenn die Sonne untergeht, versammeln sich die meisten in der großen Halle des Fürstenpalastes. Zwei Galerien, von Bögen gesäumt, umrahmen sie. Die Halle selbst liegt etwas tiefer, unter dem Spiegel des Sees und viele Brunnen, die aus seinem Wasser gespeist werden, säumen ihre Wand. In dieser Halle wird fast zu jeder Zeit gesungen, doch an den Winterabenden versammeln sich hier die besten Sänger und Musiker unseres Volkes. Sie kommen gerne, denn Sovia Rhiepalas selbst ist eine gute Musikerin und weiß Künstler zu schätzen. Nirgends in ganz Andûmale wirst du die Telhyr solch liebliche Lieder singen hören, wie an ihrem Hof. Aber es wird nicht nur musiziert. Später am Abend, wenn die Feuer in den Becken herabgebrannt sind, erzählen die Alten von den Legenden unseres Volkes. Wenn die Alten erzählen, meint man fast, man wäre selbst dabei gewesen. Damals, als in Chaom?ria noch die Möwen flogen und der warme Südwind durch Ilhian wehte." Eiriens Augen leuchteten, als sie sich an diese Abende vor vielen Jahren erinnerte. Das alte Reich ihres Volkes war schon lange Vergangenheit. Es gab niemand mehr, der seine Wunder jemals mit eigenen Augen gesehen hätte. Selbst die Ältesten der Alten kannten sie nur aus den Erzählungen ihrer Groß- und Urgroßeltern. Längst vorüber war die Zeit, als die Aleandon das stolzeste aller Völker gewesen waren, die Könige der Meere und Beherrscher des Landes.
Eirien schwieg, und auch Liah traute sich nicht, die Prinzessin in ihren Gedanken zu stören. Wenig später erreichten sie die Passhöhe und Eirien nahm das Gespräch wieder auf. "Im Sommer dagegen sind die Tage lang. Bis weit nach dem Abendläuten steht die Sonne am Himmel. Dann trifft sich alles auf den weiten Straßen und Plätzen rund um den Hafen. Manche fahren noch einmal hinaus auf den See, um den Sonnenuntergang vom Wasser aus zu betrachten. Auch im Sommer ist die Luft erfüllt von Musik und Gesang. Selbst der große Platz von Tiluvo ist nicht so zauberhaft, wie ein Sommerabend am Hafen von Neshive. Dann treffen sich die jungen Leute vor den Stufen des Fürstenpalasts, zu Füßen der Statue von Siquai, um zu Lachen, zu Singen und zu Tanzen."
Liah sah Eirien entsetzt an: "Siquai? Siquai Bredhale? Was sind das für Leute, dass sie eine Statue von ihm aufstellen? Und wie kann man zu seinen Füßen lachen und fröhlich sein?"
"Hast du denn nicht aufgepasst, wenn dir deine Lehrer von der Geschichte unseres Volkes berichtet haben? Neshive ist die älteste Stadt unseres Volkes, und die einzige, die schon vor dem Zusammenbruch des alten Reiches gegründet wurde. Es war Siquai Bredhale, dessen Schiff als erstes die Küsten Andûmales erreichte und er hat Neshive gegründet. Dafür ehren ihn die Bürger dieser Stadt noch heute. Auch in Tiluvo steht noch eine Statue von ihm, im Ratssaal meines Vaters, zusammen mit den Gründern der anderen Städte."
"Aber es war doch Siquai, der damals seinen Bruder, König Senodan, hintergangen hat, und Leid und Zerstörung über unser Volk gebracht hat. War es nicht so?"
Eirien nickte ernst. "Ja, so war es. Aber du musst wissen, dass Siquai nicht immer schlecht war. Er lebte in einer schwierigen Zeit und viele setzten damals große Hoffnung in ihn. Er war ein großer Krieger, stolz und edel. Er war der einzige, der sah, dass dieser neue Kontinent, den wir heute Andûmale nennen, unserem Volk Sicherheit bieten kann. Er kam mit einer Hand voll mutiger Familien hierher, um Neshive zu gründen. Er hätte hier bleiben können, in Sicherheit. Doch als die Not seiner Verwandten in der alten Heimat zu groß wurde, kehrte er zurück, um für sie zu kämpfen. Vielleicht war es die Verzweiflung über die aussichtslose Lage im alten Reich, die ihn verdarb. Jedenfalls war es erst dann, dass sein Stolz übermächtig wurde, und er keine Weisheit neben seiner eigenen mehr duldete. Er vergaß, dass wahre Vollkommenheit mehr braucht als die Künste des Kriegers. Er war nicht mehr mutig, er war tollkühn. Seine Schlachtpläne wurden immer gewagter. Sicher, er verlor keine einzige Schlacht, doch die Verluste wurden immer höher. Aber er selbst war nie unter den Toten, ja er wurde nicht einmal verletzt. Es war, als hätte er vergessen, dass nicht alle mit seinen Talenten gesegnet waren. Hochmut erfüllte ihn, und er begann auf diejenigen herabzublicken, die schwächer waren als er. Sein Stolz ließ schließlich auch das Bündnis mit den letzten Menschen, die noch zu uns hielten zerbrechen, und als wäre das nicht genug gewesen, verriet er seinen Bruder, um selbst König zu werden. Doch schließlich holten ihn seine Taten ein und er fiel von der Hand der Menschen, die er selbst verraten hatte. Seither ist keine Freundschaft zwischen ihnen und uns und das alte Reich der Aleandon ging verloren."

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