Die Geschichtsstunde (Forts.)

Eirien holte tief Luft. Siquai war kein einfaches Thema. Es war noch nicht lange her, dass sie selbst ihren Lehrern die gleichen Fragen gestellt hatte. "Ja, Liah, er war ein schlechter Mann, aber er war es nicht immer. Die Statue in Neshive soll an das Gute erinnern, das er uns hinterlassen hat, und uns gleichzeitig davor warnen, dass Gute und Böse manchmal nicht weit von einander entfernt sind. Es fällt schwer, einen Krieger zu bewundern, der nur Leid und Tod bringt, doch die Statue ehrt nicht Siquai, den Heerführer, sondern Siquai, den Begründer einer neuen Stadt. Sie soll uns eine Mahnung sein, wie zerstörerisch Hochmut ist, und dass ein Krieger immer nur vernichten kann. Es kommt aber darauf an, Neues zu schaffen. Wir sollten vorsichtig sein mit unseren Urteilen. Es war eine harte Zeit damals. Krieg und Zerstörung herrschten überall, aber wir haben daraus gelernt. Sicher, wir haben den Glanz des alten Reiches verloren, aber wir haben auch Krieg und Zwietracht hinter uns gelassen. Seit unser Volk in Andûmale lebt, tragen wir das Schwert nur noch zur Zierde. Zwar üben wir uns in seinem Gebrauch, aber es bestimmt nicht mehr unser Denken."
Liah schwieg nachdenklich. Eirien beobachtete das Mädchen unauffällig. Vielleicht ging sie gerade den ersten Schritt zum Erwachsenwerden. Sie musste lernen, dass man nicht immer klar zwischen Gut und Böse trennen konnte. War es nicht gerade das, was die Geschichtsbücher von den Märchen unterschied, die man den Kindern erzählte? Und doch fühlte Eirien sich fast beschmutzt, dass sie Siquai solchermaßen verteidigt hatte. Ihr Verstand sagte ihr, dass jedes Wort, das sie gesprochen hatte, die reine Wahrheit war. Siquai war nicht von Anfang an schlecht gewesen. Doch sie konnte ihr Herz nicht dazu bringen, ihm den Verrat an seiner Familie und seinem Volk zu vergeben, an ihrer Familie, ihrem Volk, ein Verrat der umso schwerer wog, weil Siquai so viele Hoffnungen geweckt hatte. Nein, selbst nach so vielen Generationen konnte sie ihm nicht vergeben.
In diesem Moment erreichten sie eine Wegbiegung. Die Straße erweiterte sich hier zu einem Platz. Mehrere steinerne Bänke boten dem Reisenden einen angenehmen Rastplatz. Die meisten der Männer und Frauen aus Eiriens Gefolge, hatten es sich bereits bequem gemacht. Eiriens trübe Gedanken waren wie verflogen. "Komm, Liah." Sie nahm das Mädchen an der Hand und führte es zum Rand des kleinen Platzes, wo der Fels steil ins Tal abfiel. "Sieh, da hinten! Das ist Neshive!" Weiß leuchtete die Stadt in der Mittagssonne. Der See dahinter schimmerte in hellem türkisblau, als wolle er eine Verbindung schaffen, zwischen dem Himmel über ihm und dem grünlichen Gletscher an seinem Ufer. Wie oft hatte Eirien die Stadt schon so daliegen sehen, doch wie beim ersten Mal schlug ihr Herz schneller. Lächelnd stellte sie fest, dass es Liah nicht anders ging. Das Mädchen sah gebannt zu der Fernen Stadt hinüber, ein Leuchten in den Augen. Eirien legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Ist sie nicht wunderschön?"
Das Mädchen nickte nur.

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