Der Fremde

Chasha liebte diese Tage im Spätherbst, wenn der Boden schon gefroren war und die Sonnenbeeren reif und golden aus den niedrigen Sträuchern lockten. Dabei ging es ihr gar nicht so sehr darum, sich denn Bauch mit den süßen Früchten vollzuschlagen. Nein, sie liebte es, immer wieder aufs Neue Sträucher zu entdecken, an denen fast kein Blatt mehr zu sehen war, so dicht waren die Zweige mit den kleinen Beeren besetzt. Jede Handvoll, die sie in ihren Lederbeutel steckte, verbreitete die angenehme Wärme von Hoffnung und Zuversicht. Es war ein guter Sommer gewesen und wie durch ein Wunder hatte sich ein noch schönerer Herbst angeschlossen. Ein helles Lachen entwich ihrer Kehle, als sie es hinter einigen Birken erneut golden hervorblitzen sah. Schnell sah sie sich um, aber keine der alten Frauen war in der Nähe, und so wies sie niemand zurecht, weil sie unnötigen Lärm gemacht hatte.
Nur Daro-Falohetha, ihre beste Freundin, blinzelte sie verschwörerisch an.
Chasha grinste zurück und deutete auf die Birken.
Falohetha legte einen Moment den Kopf schief, dann wehrte sie ab. 'Ich hab hier noch genug' sagten ihre schnellen Handzeichen.
Chasha nickte und verschwand in dem kleinen Gehölz. Manchmal gingen ihr die Alten mit ihren unbeugsamen Gesetzen gehörig auf die Nerven. Natürlich war es gefährlich, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber sie war doch wirklich alt genug, um zu entscheiden, wann Gefahr drohte und wann nicht. Und im Moment war keiner der anderen Stämme auch nur in der Nähe, das hätten die Jäger doch sonst berichtet.

Als sie die letzten Birken erreichte, blieb sie einen Moment stehen. Welch ein Reichtum! Sie würde nicht nur ihren Beutel füllen können, sondern auch noch ihre Schürze, wenn das überhaupt reichte! Aber sie mußte sich beeilen, wollte sie nicht von der Nacht überrascht werden. Schnell kniete sie sich neben den ersten Strauch und begann, die Beeren von den Zweigen zu streifen. Es war nicht einfach, denn der Sonnenstrauch trug scharfe Dornen, an denen ein unvorsichtiger Pflücker sich leicht verletzen konnte. Chasha aber hatte schon immer geschickte Hände gehabt. Bald war ihr Beutel voll, und sie begann, in ihre Schürze hinein zu pflücken.

Ein kalter Windstoß ließ sie aufblicken. Die Sonne stand jetzt schon tief, aber das war es nicht, was sie beunruhigte. Von Norden her überzogen tiefschwarze Wolken das Land. Prüfend hielt sie die Wange in den Wind, aber nein, es war nicht kalt genug für Schnee. Es würde Regen geben, Eisregen, der die Kleidung innerhalb kürzester Zeit durchnässte und den Boden mit einem schlüpfrigen Panzer überzog. Das Klima der nördlichen Ebenen konnte zu keiner Jahreszeit lieblch genannt werden, aber der Eisregen war den Ishia verhasster als jedes andere Wetter, vielleicht mit Ausnahme der winterlichen Schneestürme.

Schnell raffte sie ihre Ernte zusammen und erhob sich, doch als sie das kleine Wäldchen durchquert hatte, sah sie, daß die anderen Frauen schon fast den Eingang zum Lager erreicht hatten. Wieder erfasste sie eine Windböe, hob die schweren Zöpfe von ihren Schultern. Chasha verzog mißmutig das Gesicht. Es müßte schon Tishas Geist seine schützende Hand über sie halten, wenn sie das Lager noch trocken erreichen wollte. Vielleicht...vielleicht wenn sie nicht geradewegs zum Lager ginge, sondern direkt hinüber zu der Felswand, die sich vom Lager nach Südwesten zog. Dieser Weg wäre zwar länger, aber die Felsen würden sie zumindest zum Teil vor der Wucht des Windes und seiner nasskalten Fracht schützen. Schnell schlüpfte sie in die Trageschlaufen des Beutels, so daß er auf ihrem Rücken zu ruhen kam. Dann faltete sie ihre Schürze zu einem engen Beutel zusammen, um ja keine der kostbaren Beeren zu verlieren, und rannte los. Sie sprang über niedrige Büsche und flechtenbewachsene Steine, schlug Haken um vereiste Tümpel und Stellen, wo der morastige Grund nur gelbgrünes Gras wachsen ließ.

Sie erreichte die Felswand, gerade als die ersten Tropfen fielen. Unter einen Überhang geschmiegt, wartete sie, bis sich ihr keuchender Atem beruhigt hatte. Der Wind hatte zugenommen. Regenschleier peitschte er über das Land, das nun kalt und grau den Winter zu erwarten schien. Der Herbsttag, der in seinem sonnigen Glanz noch den vergangenen Sommer gefeiert hatte, schien nur noch ein Traum.

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