Der Fremde (Forts.)

Chasha schob den Beutel auf ihrer Schulter zurecht und machte sich daran, der Felswand bis zum Lager zu folgen. Ihre Rechnung war aufgegangen. Wenn sie die Steine auch nicht völlig schützten, so hielten sie doch das Schlimmste von ihr ab. Auf einmal, sie war keine zweihundert Schritte mehr vom Lager entfernt, stockte sie. Dort, auf dem kleinen Hügel, der den Lagerausgang bewachte, saß ein Krieger auf seinem Pferd. Der Regen fiel nun so dicht, daß Chasha sein Gesicht nicht genau erkennen konnte, aber sie war sich ganz sicher: das war keiner der Männer ihres Stammes, kein Luchsschatten. Aber wer konnte es dann sein? Vielleicht einer der Winterfluß-Leute? Aber die waren um diese Jahreszeit doch immer weiter im Süden, genau wie der Grasmeerstamm. Es würde doch keiner der Hundert-Seen-Ishia sein? Mit diesem Stamm, der für gewhnlich weiter im Norden lebte, waren die Luchsschatten seit etwa zwei Jahren verfeindet. Aber die Jäger hätten doch etwas bemerken müssen, wenn sich die Hundert-Seen auf den Weg gemacht hätten. Und wenn es nun ein einzelner Krieger wäre, der sich Ruhm und Ansehen verschaffen wollte?

Seltsamerweise spürte Chasha keine Furcht. Genauso sicher, wie sie wußte, daß sie diesen Mann noch niemals zuvor gesehen hatte, genauso sicher wußte sie, daß er sie nicht angreifen würde. Gebannt blieb sie stehen und beobachtete den Mann. Er saß vollkommen still auf seinem Pferd, und das Tier liebte seinen Reiter so sehr, daß es sich nicht von der Stelle rührte. Nur seine Ohren spielten unruhig und zeigten, daß es den kalten Regen nicht liebte. Der Krieger aber störte sich nicht an den Wassertropfen, die fast waagerecht daherkamen und sofort gefroren, wenn sie Stein und Erde berührten. Der Sturm, der ihm lange blonde Strähnen aus dem Zopf gerissen hatte, kümmerte ihn nicht. Warum nur suchte er keinen Schutz? Lauerte er auf etwas? Einen Feind? Eine Beute? Aber nein, dann hätte er viel angespannter im Sattel gesessen. Spürte er denn die Kälte nicht? Er mußte doch schon bis auf die Haut durchnässt sein, durchgefroren bis auf die Knochen! Doch der Fremde rührte sich nicht.

Chasha hatte ihr Ziel vergessen. Das Lager mit seinem warmen Feuern lockte sie nicht mehr. Irgendetwas zog sie zu dem stillen Reiter hin und hätte sie nicht schon in Kutona einen wunderbaren Mann gefunden, vielleicht hätte sie sich verliebt. Die Minuten vergingen und weder Mann noch Frau regten sich. Dann auf einmal gab der Krieger seinem Pferd die Sporen, doch er nahm die Zügel nicht auf. Mit weitausgebreiteten Armen jagte er nach Norden, und auch wenn Chasha sein Gesicht nicht sehen konnte, wußte sie doch, daß er lachte.

........

Als Chasha erwachte, wußte sie einen Moment nicht, wo sie war. Erst allmählich nahm sie ihre Umgebung war: das warme Licht der Frühlingssonne, das durch den Eingang schien, die Felle neben ihr, noch warm, wo bis vor kurzem Kutona gelegen hatte. Kutona, ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, ihr Mann und der Vater ihres Kindes, das eng an sie geschmiegt schlief. Wahrscheinlich würde er bald zurücksein und seinen Sohn sehen wollen und kurz darauf würde der Strom an Besuchern nicht abreißen, die unter irgendeinem Vorwand zu der jungen Mutter ins Zelt kamen, nur um das Neugeborene zu sehen. Chasha seufzte, doch eigentlich war sie nicht traurig. Es wurde Zeit, daß sie ihren Sohn dem Stamm vorstellte, aber noch wußte sie keinen Namen. Natürlich war der Name, den das Kind jetzt erhielt noch nicht endgültig, aber dennoch sollte es etwas ganz besonderes sein für ihren Sohn, ihren Erstgeborenen. Wer konnte schon wissen, ob er ihn nicht doch behalten würde.

Liebevoll sah sie auf den kleinen Kopf an ihrer Brust hinab. "Wie soll ich dich nennen, mein Liebling?" fragte sie leise. "Du wirst nicht immer so klein und friedlich sein. Eines Tages wirst du groß sein, ein tüchtiger Jäger, ein stolzer Krieger, der für sein Volk kämpft." Ein Krieger... auf einmal war er wieder da, dieser Traum, so lebendig und wahr, als schliefe sie noch immer. Wenn ihr Sohn doch nur auch zu so einem Mann heranwachsen würde, so stolz, so stark, so voll Liebe für dieses rauhe Land, daß er mit einem Lachen in den bitterkalten Regen hineinreiten würde. Auf einmal wußte sie, warum sie den Krieger nicht gekannt hatte und warum sie ihn dennoch nicht fürchtete. Der Traum hatte ihr ihren Sohn gezeigt, nicht klein und hilflos, sondern so, wie er einmal sein würde. In dem Moment schlug der Kleine die Augen auf, Augen, so blau wie der Himmel. Ob sie einmal das Grau der Regenwolken annehmen würden? Warme Liebe durchströmte sie, als sie ihren Sohn an sich drückte. "Es wird Zeit, daß du dein Volk kennen lernst, mein Eisregen, mein Firas-isha."

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Für die Interessierten hier noch schnell eine Übersetzung der im Text vorkommenden Namen:
Chasha = Mitternacht
Daro-Falohetha = flüsterndes Schilf
Kutona = Hoffnung
Firas-isha = Eisregen