Wie die Welt wurde, was sie ist

Am Anfang war nur die Göttin. Die Welt lag in Chaos und Unordnung und die Menschen lebten allein, verstört und unwissend. Da überlegte die Göttin lange, was zu tun sei, und endlich wurde sie schwanger in ihrer Weisheit. Vier Söhne gebar sie: Bera, Anevas, Tajed und zuletzt Anir und sie nährte sie und ihr Herz war froh, als sie sie heranwachsen sah. Die Jungen wuchsen schnell heran und so fertigte die Göttin für jeden ein schönes Gewand, damit sie ihrem Stand entsprechend gekleidet wären, wenn der Tag ihres Erwachsenwerdens gekomen sei. Doch als alles bereit war, versteckte sie die Kleider, denn noch war sie nicht bereit, die Kinder gehen zu lassen, die so lange ihre Freude gewesen waren.
Doch es ging nicht lange, da bemerkten auch die vier, daß die Tage ihrer Jugend vorüber waren. Und sie baten ihre Mutter um den Segen, den sie wollten in die Welt hinausziehen. So trat einer nach dem anderen vor die Göttin.
Als erster kam Bera, der Erstgeborene. Rot war sein Haar und seine Mutter kleidete ihn in ein reiches grünes Gewand, das die Farbe seiner Augen wiederspiegelte. Nachdem er ihren Segen empfangen hatte, zog er seine Flöte hervor und ging in die Welt hinaus. Da wurde die Welt grün wie sein Mantel. Gras bedeckte die kahle Erde und überall blühten Blumen. Auch die Bäume hüllten sich in ein prächtiges Blütenkleid und die Vögel sangen und jubilierten. Die Menschen sahen sich plötzlich an, als wären sie vorher blind gewesen. Überall sah man Liebespaare, und auch wer keinen Liebsten gefunden hatte, tanzte zu Beras Flöte.
Da trat Anevas vor die Göttin. Golden leuchtete sein Haar und seine Augen waren von einem strahlenden Blau. Blau war auch das Gewand, in das ihn seine Mutter kleidete. Mit einem Lächeln segnete sie ihn und er zog hinaus in die Welt. Sein Mantel wehte im Wind, als er seine Fiedel hervorzog und ein fröhliches Lied anstimmte. Da wurde der Himmel blau, das Getreide reifte und die Wiesen waren reich an Klee. Ein warmer Wind wehte. Schiffe verließen die Häfen und machten sich auf die weite Fahrt, begleitet vom Gesang der Möwen, die in Anevas' Lied einstimmten.
Nun wollte auch Tajed, der Zweitjüngste, nicht hinter seinen Brüdern zurückstehen. Sein Haar und seine Augen waren von einem warmen Braun und die Göttin hielt ein rotes Gewand für ihn bereit. Sie segnete ihn und sogleich begann er auf seinem Dudelsack zu spielen. Unter den Klängen reiften Obst und Trauben. Jäger und Fischer brachten reiche Beute nach Hause. Die Äpfel leuchteten rot wie sein Gewand und die Kastanien erstrahlten im warmen Braun seiner Augen. Bald fielen die Schwäne und Gänse in sein Lied ein und überall brannten die Erntefeuer.
Als letzter trat Anir vor seine Mutter. Sie nahm ein weißes Gewand hervor, denn sein Haar war weiß und seine Augen grau. Doch als sie so das letzte ihrer Kinder gehen sah, wurde sie traurig und sie hielt das Gewand fest und wollte es ihm nicht geben. Anir aber löste es mit starkem Griff aus seiner Mutter Hand und zog hinaus, ohne ihren Segen abzuwarten. Lange ließ er den Blick über die reiche Welt schweifen, doch kein Instrument war ihm gegeben. Endlich fing er an zu singen, und unter seinen leisen Klageliedern erstarb die Welt. Ein weißer Mantel legte sich über Felder und Fluren, so wie der Mantel, den seine Mutter ihm gefertigt hatte. Eisige Kälte zog ein. Die Menschen verkrochen sich voller Furcht in ihren Behausungen, Streit brach unter ihnen aus, und an vielen Stellen färbte sich der Schnee rot vom ersten vergossenen Blut. Weder Mensch noch Tier stimmte in den schaurigen Gesang ein, nur die Wölfe ließen ihr schreckliches Heulen erklingen.
Als Bera, Anevas und Tajed sahen, daß ihr Bruder alles zerstörte, was sie geschaffen hatten, wurden sie sehr zornig. Sie beschimpften ihn und bald hätten sie ihn wohl getötet, wenn nicht die Göttin zwischen sie getreten wäre. Lange sah sie ihre Söhne an, denn der Streit zwischen ihnen schmerzte sie sehr. Endlich begann sie zu sprechen: "Seid ihr nicht alle meine Kinder? Habe ich euch nicht alle geboren und gesäugt? Warum steht dann Haß in euren Augen? Du, Bera, beklagst dich, daß dein Bruder die Pflanzen getötet hat, die du zum Leben erweckt hast, aber gibt dir das nicht die Gelegenheit, sie noch schöner und noch bunter neu zu schaffen? Anevas, du bist zornig, daß die Welt im Eis erstarrt, der du ihr doch Wärme gegeben hast, aber ohne den Schnee deines Bruders könnte sie nicht ruhen, um neue Kräfte zu sammeln. Und du, Tajed, bist wütend, weil die Menschen Hunger leiden unter der Herrschaft deines Bruders. Doch wann sollten sich die Speicher leeren, die du so reichlich gefüllt hast?" Schließlich sah sie ihr jüngstes Kind an. In seinen Augen sah sie, daß er, den sie am längsten unter ihrem Herzen getragen hatte, den größten Einblick in ihre Weisheit hatte, doch sie sah auch viel Zorn und Schmerz. "Anir, du mußt lernen, deinen Schmerz über die Einsicht, die dir gegeben ist zu zügeln, oder du wirst alles zerstören." Da senkte er beschämt den Blick, den er spürte, daß er seiner Mutter an Weisheit nicht gewachsen war.
In diesem Moment trat Tajed zu ihm, legte den Arm um ihn und bat ihn um Verzeihung. Auch Bera versöhnte sich nun mit seinem jüngsten Bruder, nur Anevas hielt sich zuerst zurück, bis ihn der Blick seiner Mutter traf. Dann trat auch er zu Anir und bat ihn mit leiser Stimme um Vergebung, doch legte er nicht den Arm um ihn. Der Frieden war wieder hergestellt, aber auch heute noch halten sich Sommer und Winter fern voneinander.

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