Die Alte im Wald

(Vorbemerkung: Hjat-Anira bedeutet soviel wie "der Berufene des Anir")

Als Eirik die kleine Lichtung betrat, ließ er die Geräusche der Wolfsjagd hinter sich zurück. Vor ihm stand eine kleine windschiefe Hütte, die schon so manchen Winter gesehen zu haben schien.
Neugierig trat er näher, wer mochte hier wohnen? Den langen Speer in der Hand ging er um die kleine Hütte herum. Die Tür stand offen. Eirik trat ein.
In der Hütte war es dunkel und zuerst vermochten seine Augen, die an das Gleißen des Schnees gewöhnt waren, nichts zu erkennen. Da erklang eine Stimme, leise und heiser: "Sei gegrüßt, Eirik Helyaves, der du von Anir berufen wardst."
Die höfliche Erwiederung blieb Eirik in der Kehle stecken. "Wer bist du?" Fast flüsterte er. "Wer bist du, daß du mich mit solchen Namen belegst?" Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel. Auf einem Lager aus alten Fellen saß eine uralte Frau.
"Wer ich bin?" ihre Augen blizten spöttisch im schwachen Licht des verglimmenden Herdfeuers. "Weißt du das nicht? Du warst lange in der Fremde, Hjat-Anira."
Eirik schluckte trocken. "Du bist die alte Anava. Aber du warst doch schon bei meiner Geburt..." er brach ab.
"Schon bei deiner Geburt war ich alt. Jetzt bin ich uralt." Sie grinste mit zahnlosem Mund. "Setz dich, Nera Akeire."
Eirik schüttelte den Kopf. "Warum nennst du mich so? Blutvergießen bereitet mir keine Freude, nicht so wie meinen Brüdern." Ganz konnte er die Bitterkeit nicht aus seiner Stimme halten.
Anava sah ihn an. "Ist das nicht ein Schwert an deiner Seite? Sind deine Muskeln nicht im Kampf erstarkt? Hast du deine Hände noch nie in Blut gebadet? Im Blut anderer?"
"Schon, aber doch nicht, weil es mir Freude macht, sondern weil man mir keine andere Wahl ließ. Viel lieber würde ich ein friedliches Leben führen, doch wer steht dann an der Seite derer, denen Unrecht wiederfährt? Meine Brüder dagegen können nicht genug bekommen von Kampf und Tod und Heldentaten. Und selbst im Frieden erzählen sie nur..."
Anavas leise Stimme unterbrach ihn. "Auch Anir hätte die Dinge lieber wachsen lassen, doch kein Instrument war ihm gegeben. Ihm blieb nur der Gesang des Todes und der Zerstörung. So wie dir nur der Weg des Kriegers blieb. Es war bereits zur Stunde deiner Geburt vorherbestimmt."
Eirik schüttelte unwillig den Kopf. "Ich glabe nicht daran, daß die Stunde unserer Geburt unser Leben bestimmt. Sind denn alle Kinder, die am gleichen Tag geboren sind, gleich? Das ist doch nur dummes Geschwätz der Priester, die sich wichtig machen müssen."
"Ich sagte nicht, daß die Stunde deiner Geburt dein Geschick bestimmt hätte, sondern, daß dein Schicksal damals schon feststand. Die Göttin kennt alles, die Vergangenheit wie die Zukunft. Alles was auf dieser Erde vor sich geht, liegt klar vor ihren Augen, und manchmal teilt sie sich uns Menschen mit."
Eirik dachte einen Moment nach. Nur das letzte Knistern der Kohlen durchbrach die Stille. "Wenn alles vorherbestimmt ist, was wir tun, warum strengen wir uns dann noch an? Warum geben wir nicht einfach auf, wenn die Schwierigkeiten zu groß werden."
"Wenn die Göttin dich in ihrer Weisheit auf einen Platz gestellt hat, wo deine Stärke gebraucht wird, dann wird dir nicht in den Sinn kommen, aufzugeben. Du weißt, wovon ich spreche."
Schmerzhafte Erinnerung verdunkelte Eiriks Augen, und einen Moment vermochte er nicht zu sprechen. Endlich sagte er leise: "Ja, ich weiß, wovon die sprichst. Aber warum hilft die Göttin uns Menschen dann nicht, wenn sie um unser Elend weiß? Wie oft habe ich sie um Hilfe angefleht, doch nichts geschah."
"Aber sie hat doch geholfen. Sie hat unzähligen Menschen geholfen, indem sie dich zu ihnen schickte."
"Und was ist mit mir? Brauche ich nicht auch ihre Hilfe?"
"Hat sie dir wirklich nie geholfen? Ist dir nie Gutes wiederfahren, das die Kraft gegeben hätte weiterzumachen? Kein Freund, der dir je einen Teil der Last abgenommen hätte? Keine Frau, deren Lächeln dir den Mut gab weiterzumachen? Kein Kind, dessen sanfter Schlaf es dir unmöglich gemacht hätte aufzugeben? Hat dir die Göttin wirklich nie geholfen?"
Eirik dachte an seine Kameraden, an Alessa und die Kinder, die sie ihm geschenkt hatte. Er nickte. "Vielleicht hast du recht. Aber sag: Wenn die Göttin wirklich so mächtig ist, warum konnten dann erst ihre Söhne die Welt erschaffen?"
Anava lachte krächzend. "Aber ihre Söhne haben die Welt nicht erschaffen. Auch die Göttin hat die Welt nicht erschaffen. Die Welt existiert vom Anbeginn der Zeiten an."
"Dann kam die Göttin erst später?"
"Hast du es noch immer nicht verstanden? Die Göttin und die Welt sind eins. Es kann nicht das eine ohne das andere geben. Die Erde, die Sterne, das Meer - alles ist durchdrungen von ihr und sie ist durchdrungen von der Welt. Sie sind eins."
Eirik gab noch nicht auf. "Aber warum konnten dann erst ihre Söhne Pflanzen und Tiere schaffen? Warum machte sie das nicht selbst?"

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