Die Alte im Wald (Forts.)

"Du hast nicht aufgepasst. Selbst die borniertesten Priester haben nie behauptet, daß Astom das Gras erschaffen hätte, das er wachsen ließ, oder Vodis die Trauben. Es war alles von Anfang an bereits da, aber ungeordnet. Es gab keine Jahreszeiten, die Ordnung gebracht hätten. Die Bäume trugen Blüten und Früchte zugleich und oft warfen sie die Früchte ab, bevor sie gereift wären. Nichts gedieh, aber es war bereits alles da."
"Und warum hat die Göttin dann nicht selbst Ordnung gebracht? Wozu braucht sie da vier Söhne, wenn sie doch selbst so mächtig ist?"
"Wenn ein reicher Mann seinen Diener zum Schmied schickt, um ein Schwert zu kaufen, wird dann der Schmied nicht sagen 'Der Herr hat mein Schwert gekauft.'? Sie hat die vier Götter zur Welt gebracht, doch immer bleiben sie ein Teil von ihr, so wie jedes Kind immer ein Teil seiner Mutter bleiben wird. Und so wie der Herr darauf vertraut, daß sein Diener handelt, wie ihm gesagt wurde, so kann die Göttin darauf vertrauen, daß ihre Söhne in ihrem Geist handeln, sind sie doch aus ihr geboren. Sie hat den Vieren ihre Gewänder gemacht, ohne die sie nicht in die Welt hätten ziehen können. Nur mit ihrem Segen konnten sie ihr Werk beginnen."
"Anir wartete den Segen seiner Mutter nicht ab." Eiriks Stimme war ausdruckslos. Es war eine Feststellung.
"Anir war dem Geist seiner Mutter näher als die anderen. Er wußte genau, was von ihm erwartet wurde, doch war er verbittert über die Schwere seiner Aufgabe. Es war der Schmerz, der ihn dazu brachte, sich loszureißen, bevor sie ihn segnen konnte. Ist das so schwer zu verstehen, Nera Akeire?"
Eirik zuckte unwillkürlich zusammen, als sie ihn wiederum bei diesem Namen rief. Nein, eigentlich war es nicht schwer zu verstehen. Nicht selten hatte er selbst andere verletzt, weil ihn die Pein in seiner Seele sonst davon abgehalten hätte, seine Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht war er wirklich ein Hjat-Anira, einer, den Anir als sein Eigen gekennzeichnet hatte. Doch noch hatte er viele Fragen. "Warum verehren wir dann die Göttin nicht, wenn sie doch der Ursprung von allem ist? Warum hat jeder der vier Götter einen Schwarm von Priestern und Unmengen von Altären, doch nirgends singt man Lieder zum Lob der Göttin?"
Anava antwortete erst nach einer kurzen Pause: "Warum hat die Göttin keinen Namen? Warum wissen wir nicht, wie sie aussieht oder wie sie gekleidet ist? Denkst du über die Luft nach, die du atmest oder darüber, wie dein Arm sich bewegt, wenn du das Schwert führst? Die Göttin ist überall. Sie ist auch ein Teil von uns. Jeder Atemzug, den wir tun, ist Verehrung für sie."
Eirik dachte einen Moment nach, dann lachte er leise. "Und ich dachte immer, es wäre ungerecht, daß es vier Götter gibt, aber nur eine Göttin. So wie du es darstellst, muß man sich schon eher fragen, warum es für uns Männer nur vier Götter gibt."
Auch Anava lächelte und für einen Moment wirkte die Alte fast schön. "Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Eirik Helyaves, der du die Welt gesehen hast? Es gibt gar keine vier Götter. Es gibt nur die Göttin, doch sie ist weder männlich noch weiblich. Sie ist viel zu groß, als daß wir Menschen sie mit unseren armseligen Maßstäben messen könnten. Sie ist der Weltengeist, der uns alle träumt."
"So etwas erzählen die Aleandon, die wir Menschen Nixen nennen."
Jetzt war Anava sprachlos. "Du hast die Nixen gesprochen? Hast mit den Alten geredet?"
Eirik nickte. "Ich bin sogar mit ihnen in den Krieg gezogen."
Anava schloß die Augen. "Du weißt nicht, wie sehr ich mir gewünscht habe, einmal mit den Alten zu reden, doch die meisten glauben nicht einmal, daß es sie gibt."
Eirik lächelte leicht. "Sie sind wunderschön ... und so anders, als wir Menschen. Ich weiß nicht, wie ich sie dir beschreiben soll."
"Dann laß es. Ich bin es zufrieden, daß es sie gibt und daß du sie gesehen hast." Sie verstummte und lange Minuten sprach niemand. Auf einmal öffnete sie die Augen und sah ihn an. "Es wird Zeit, daß du gehst."
Eirik nickte. Es mußten schon Stunden vergangen sein, seit er die Lichtung betreten hatte. "Gibt es etwas, was ich für dich tun kann?"
Anava sah ihn lange an. "Ich hatte gehofft, daß du fragen würdest. Sieh, ich bin älter als alt. Lange warte ich schon auf den Tod, doch er spielt sein Spielchen mit mir." Ihre Stimme wurde so leise, daß er sie kaum noch verstehen konnte. "Ich habe Angst. Angst hier zu verrotten, bis sich der Tod endlich bequemt mich zu holen. Du bist ein erfahrener Krieger. Du würdest meinen Tod schnell und schmerzfrei machen."
Eirik sah sie ungläubig an, einen Moment lang fehlten ihm die Worte. Als sich dann an die Alte wandte, klang seine Stimme rau und heiser: "Weißt du, was du da von mir verlangst?"
Sie lächelte traurig. "Ja, aber ich weiß auch, von wem ich es verlange, Hjat-Anira."
Eirik schloß die Augen, von Schmerz und Trauer überwältigt, doch seine Rechte griff nach dem Dolch.

Verwandte Themen: