Der Tanz der Meerdrachen

Am vierten Tag ohne Wind erwachte Jotan bereits vor Sonnenaufgang. Nikela neben ihm schlief noch tief und fest, aber er wusste, dass er selbst so schnell nicht wieder einschlafen würde. Er stand auf und zog sich so leise wie möglich an. Seine Frau war es gewohnt, dass er mitten in der Nacht aufstehen musste und drehte sich nur mit einem leisen Laut des Protests auf die andere Seite, ohne jedoch wirklich aufzuwachen.
Jotan ging an Deck. Wie meistens führte ihn sein erster Gang achtern, wo heute morgen Alsak am nutzlosen Steuerrad stand.
"Morgen, Kapitän." begrüßte ihn der Mann und musste fast augenblicklich gähnen.
Jotan lachte. "Guten Morgen, Alsak. Oder sollte ich sagen: 'Gute Nacht'?"
Alsak zuckte nur mit den Achseln. Seine Wache ging noch etwas mehr als eine Stunde - und schon wieder musste er gähnen.
Jotan grinste. "Lass es gut sein. Leg dich hin. Ich übernehme den Rest deiner Wache."
Der Matrose sah erstaunt auf. "Danke, Jotan!"
"Schon gut. Verschwinde, bevor mir etwas Besseres einfällt, das ich mit meiner Zeit anfangen könnte."
Das ließ Alsak sich nicht zweimal sagen. In wenigen Schritten hatte er den hinteren Aufgang erreicht. Gerade als er sich durch die niedere Tür ducken wollte, hielt er inne und sah noch einmal zu Jotan auf. "Ach ja, Kapitän. Meko ist vor zwanzig Minuten aufgetaucht. Er hat den Ausguck übernommen."
Jotan nickte dankend und schon war der Mann verschwunden.
Jotan sah sich um. Das Wasser lag spiegelglatt wie seit Tagen und eine kurze Prüfung des Steuerrads ergab, dass es noch immer nicht griff. Wie sollte es auch. Auch der Kompass war unverändert. Das Schiff lag vollkommen still. Jotan seufzte. Er konnte nichts tun, sie mussten einfach warten, bis der Wind zurückkehrte. Sein Blick ging hinauf in die Takelage. Eigentlich konnte er genauso gut Meko einen Besuch im Krähennest abstatten, anstatt sich hier zu langweilen. Er schlenderte über das Achterdeck und stieg die kurze Treppe zum Hauptdeck hinab. Von da waren es nur noch wenige Schritte zu den Wanten des Großmast. Er begann zu klettern. Plötzlich musste er an den Tag denken, als er diesen Weg das erste Mal genommen hatte. Es war lange her. Ein anderes Schiff, ein anderer Kapitän, ja sogar ein anderes Meer. Damals hatte er geglaubt, vor Angst sterben zu müssen, damals als Schiffsjunge in der königlichen Marine von Belida. Von Süd-Belida musste man ja wohl mittlerweile sagen. Aber der Knabe, der er einmal gewesen war, hatte schnell gelernt, und bald hatte die Arbeit in der Mastspitze zu seinen liebsten gehört.
Über diesen Gedanken hatte er das Krähennest erreicht. Mehr als zwanzig Klafter lag das Deck nun unter ihm. Als er den Kopf über die Kante hob, begrüßte Meko ihn mit einem fröhlichen Lächeln: "Guten Morgen, Jo. Solch illustren Besuch in der Mastspitze sieht man nicht auf jedem Schiff. Die meisten Kapitäne sind sich zu fein dafür - oder zu fett."
"Morgen, Meko." Jotan ließ sich neben seinem Steuermann nieder. Nur ein weitmaschiges Netz sicherte sie auf der schmalen Plattform vor dem Hinabstürzen. "So etwas Ähnliches habe ich mir gerade auch gedacht."
Meko lachte leise, dann saßen sie in einträchtigem Schweigen nebeneinander, während um sie herum die Welt allmählich aus der Dunkelheit der Nacht auftauchte. Im Osten begann der Horizont sich rot zu färben und langsam zeichneten sich die Felsen des neu entdeckten Landes als dunkler Streifen davor ab.
Jotan deutete mit einer knappen Handbewegung hinüber zur Küste. "Das war also Timalos neues Land. Was hältst du davon?"
Mekos Blick folgte seiner Bewegung. "Vielleicht sollte man das nächste Mal der Küste weiter nach Süden folgen. Wo wir waren ist jedenfalls nicht viel los, nur Felsen und ödes Land."

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